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Deutsche Myasthenie Gesellschaft e.V.

Kongenitales myasthenes Syndrom

(engl. congenital myasthenic syndromes, CMS) 

Kongenitale myasthene Syndrome (engl. congenital myasthenic syndromes, CMS) stellen klinisch und pathogenetisch eine seltene, heterogene Gruppe von Erkrankungen, von angeborenen Störungen der Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel dar. Folge dessen sind Muskelschwäche und übermäßige Belastungsintoleranz.  

Die Prävalenz wird auf 1– 9 Betroffenen unter einer Million Menschen geschätzt.  

Verlauf und Schweregrad der Erkrankung sind sehr unterschiedlich und hängen von der ihr zugrunde liegenden genetischen Ursache ab. Sie variieren von einer Minimalsymptomatik mit Ptose und leichter muskulärer Schwäche bis hin zu lebensbedrohlichen Situationen nach der Geburt oder im Rahmen krisenhafter Verschlechterung bei älteren Kindern und Jugendlichen. Auch die klinische Symptomatik ist sehr variabel und nicht immer spezifisch. 

Ursache und Krankheitsentstehung 

CMS ist genetisch bedingt. Abhängig von der Lokalisation ist die Störung der Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel die Folge einer präsynaptischen, synaptischen oder postsynaptischen Störung, einer verlängerten Kanalöffnungszeit oder einer verkürzten Kanalöffnungszeit. Auch kann die Symptomatik über eine Störung der neuromuskulären Übertragung hinausgehen. Derzeit sind ca. 35 ursächliche Gene bekannt, deren Mutationen die spezifischen Subtypen der CMS definieren. Durch moderne Methoden werden zunehmend mehr Gene identifiziert, die ein CMS verursachen. 

 Die meisten Formen treten sporadisch auf und werden sowohl autosomal-rezessiv (ein betroffenes Kind in der Familie, Eltern gesund), selten autosomal-dominant vererbt (Weitergabe der Erkrankung von Generation zu Generation). 

Krankheitsbeginn und Beschwerden 

Da es sich um eine angeborene (=kongenitale) Erkrankung handelt, können die Beschwerden schon im Mutterleib oder während der ersten Lebensmonate vorhanden sein.  

Der Beginn der Symptomatik von CMS liegt in der Regel in der frühen Kindheit, meist in den ersten beiden Lebensjahren.  

Es kommt zu einer vorzeitigen Ermüdbarkeit der Skelettmuskulatur, der Augenmuskulatur (Schielen, Doppelbilder) oder der mimischen Muskulatur (ausdruckloses Gesicht), zu Schluckstörungen (Speicheln) oder Atemlähmungen. Die Schwäche nimmt im Tagesverlauf und nach Belastung zu. Tägliche oder wöchentliche Schwankungen sind ebenfalls möglich. 

Im Säuglingsalter fallen kraftloses Schreien und Trinkschwäche auf. In vielen Fällen kommt es – ausgelöst durch respiratorische Infekte – zu krisenhaften Verschlechterungen.  

Kleinkinder zeigen eine Verzögerung in ihrer motorischen Entwicklung (z. B. verspätetes laufen lernen).   

Im Erwachsenenalter zeigen sich meist eine abnorme Ermüdbarkeit der Muskulatur bei Belastung und auch häufig eine tageszeitabhängige Ptose.  

Erstmanifestationen im späteren Erwachsenenalter sind seltener. 

Klinische Leitsymptome  

Das klinische Bild dieser Erkrankungen ist nicht einheitlich. 

Abhängig vom Manifestationsalter stehen verschiedene Symptome im Vordergrund 

Neugeborene und Säuglinge (Neonatalzeit) 

  • Trinkschwäche, hoher Gaumen 
  • Saug- und Schluckstörungen 
  • schwaches Schreien 
  • Floppy-infant-Syndrom (engl. „schlaffes Kind“): ungewöhnliche Körperhaltung, verminderte Bewegung gegen Widerstand, abnorme Gelenkbeweglichkeit 
  • verminderte Grundspannung der Skelettmuskulatur (muskuläre Hypotonie) 
  • Atmungsprobleme, Atempausen (Respiratorische Probleme) 
  • Atemstillstand (Apnoe) 

 Symptomatik in jedem Alter 

  • herunterhängende Augenlider (Ptosis) 
  • Einschränkungen in der Bewegung der Augenmuskulatur (externe Ophthalmoplegie), Doppelbilder, Schielen (Strabismus) 
  • bulbäre Symptome 
  • Schwäche der Gesichtsmuskulatur (Hypomimie), offener Mund 
  • nasale Sprache 
  • abnorme Muskelermüdbarkeit 
  • Muskelschwäche von Rumpf, Armen und Beinen
  • Zunahme von Skoliose und/oder Bewegungs- und Funktionseinschränkung von Gelenken (Kontrakturen) 
  • durch Infekte ausgelöste und/oder belastungsinduzierte Krisen mit respiratorischer Insuffizienz und lebensbedrohlicher Verschlechterung 
  • wiederkehrende Atemstillstände (Apnoen) 

Diagnostik 

Die Diagnose wird durch Anamnese, klinische Untersuchung und elektrophysiologische Diagnostik vermutet. Die endgültige Diagnose wird durch den Nachweis des genetischen Defektes gestellt, dieser ist derzeit bei ca. 50% der Betroffenen möglich. 

 Untersuchungen zur Diagnosesicherung 

  • Anamnese (Leitsymptome, familiäres Auftreten) 
  • klinische Untersuchung (Belastungsintoleranz, Muskelschwäche wiederholt im Tagesverlauf) 
  • Neurophysiologie (repetitive Stimulation in Ruhe und nach Belastung) 
  • serologische Diagnostik zum Ausschluss einer autoimmunen Myasthenie (AChR-, MuSK-, LRP4-, Agrin-, Titin- Autoantikörper: 
  • Histopathologie der Muskelbiopsie 
  • molekulargenetische Diagnostik 

Eine gezielte molekulargenetische Diagnostik ist erst nach Zuordnung des  zugrundeliegenden Defektes durch die klinische Untersuchung und elektrophysiologische Diagnostik möglich, z. B.: 

  • episodische Apnoen 
  • präsynaptische CMS (CHAT Mutationen) 
  • postsynaptische CMS (RAPSN Mutationen) 
  • Fluktuation der klinischen Symptome über Tage und Wochen 
  • CMS bei Mutationen im DOK-7-Gen 
  • verlangsamte Pupillenreaktion auf Licht  
  • AChE-Defizienz (COLQ Mutationen) 

Das Ergebnis der molekulargenetischen Diagnostik hat Einfluss auf das therapeutische Vorgehen.  

Therapie 

Diese ist abhängig vom zugrundeliegenden/vermuteten genetischen Defekt und symptomatisch. Anders als bei der autoimmunen Myasthenia gravis lassen sich keine Serumantikörper gegen AChR oder MuSK nachweisen und die Patientient*innen sprechen nicht auf eine immunsuppressive Therapie an.  

Acetylcholinesterase-Hemmer und/oder 3,4-Diaminopyridin, Ephedrin, Salbutamol/Albuterol, Fluoxetin, Chinidinsulfat, Acetazolamid und Intravenöse Immunglobuline werden zur Behandlung der CMS eingesetzt. 

Ergänzend zur medikamentösen Therapie können Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie und/oder die Versorgung mit Hilfsmitteln notwendig und hilfreich sein.  

Quelle: Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie © DGN 2023